Neues Lernen für eine nachhaltige Zukunft

Timothy Fitschen
Interview mit Timothy Fitschen

„Die Bioökonomie bringt neue Berufe in die Region“

25.01.2021

Mit dem Strukturwandel ändern sich auch die beruflichen Bedarfe im Rheinischen Revier. Die Agentur für Arbeit Brühl unterstützt als „Revieragentur“ den erforderlichen Umbau der regionalen Kompetenz- und Qualifizierungslandschaft. Im Interview erläutert Bereichsleiter Timothy Fitschen, wie sich Aus-, Fort- und Weiterbildung in Zukunft verändern werden.

Herr Fitschen, welche Aufgabe fällt der „Revieragentur“ im Rahmen des Strukturwandels im Rheinischen Revier zu?

Für jede der drei deutschen Braunkohleregionen hat die Bundesagentur für Arbeit eine „Revieragentur“ benannt. In Brühl koordinieren wir seit zwei Jahren federführend die Aktivitäten der Agenturen für Arbeit im Rheinischen Revier, stimmen uns also eng mit unseren Kollegen in Aachen-Düren und Mönchengladbach ab. So gewährleisten wir einen schnellen Informationsaustausch und Wissenstransfer innerhalb unserer Organisation. Das ermöglicht es uns beispielsweise, gemeinsame Maßnahmen auf den Weg zu bringen. Darüber hinaus bringen wir uns aktiv bei der Weiterentwicklung des Reviers ein und stehen allen Akteurinnen und Akteuren beratend zur Seite. Außerdem ist die Revieragentur die direkte Ansprechpartnerin für das bergbautreibende Unternehmen.

Inwieweit macht sich der Strukturwandel bereits im Alltag der Agenturen für Arbeit bemerkbar?

Abgesehen von der Netzwerkarbeit sind die direkten Auswirkungen derzeit noch überschaubar. Hinter jedem Megawatt Kraftwerksleistung steht grob gerechnet ein Arbeitsplatz. Da bislang erst ein Kraftwerksblock mit 300 Megawatt abgeschaltet wurde, reden wir aktuell also über 300 Arbeitsplätze. Die Situation wird sich jedoch bis Ende 2022 verschärfen, wenn insgesamt 3.000 Megawatt vom Netz genommen wurden. Insgesamt werden bis 2038 rund 28.000 Arbeitsplätze in der Region vom Kohleausstieg betroffen sein. Etwa zwei Drittel davon sind indirekte Arbeitsplätze, beispielsweise bei Zulieferern.

Was bedeutet dieser Arbeitsplatzverlust für den regionalen Bildungssektor?

Generell wird das Ende der Kohleverstromung dazu führen, dass viele gut bezahlte Industriearbeitsplätze wegfallen. Im Revier werden bereits neue Perspektiven für die Region erarbeitet, wobei in den identifizierten Zukunftsfeldern die Schaffung neuer Arbeitsplätze selbstverständlich eine zentrale Rolle spielt. Die Fragen, die sich in diesen Zusammenhang stellen sind: Welche Kompetenzen und Fertigkeiten werden in der Region zukünftig benötigt? Wie sind die regionalen Qualifizierungsträger auf den Wandel vorbereitet?

Welche Berufsbilder und Qualifikationen werden im Rheinischen Revier denn zukünftig besonders gefragt sein?

Zum aktuellen Zeitpunkt ist das leider nur schwer zu prognostizieren. Grundsätzlich wird die Nachfrage nach ausgebildeten und spezialisierten Fachkräften weiter zunehmen. Auch Fähigkeiten wie Prozesssteuerung und eigenständige Entscheidungsfindung werden künftig stärker gefragt sein. Persönliche Kompetenzen gewinnen also an Bedeutung. Hinzu kommt, dass der Einsatz komplexer IT-Systeme in immer mehr Berufsbildern die Regel wird und es dadurch in bestimmten Bereichen zum Wegfall von Aufgaben und Tätigkeiten kommen wird. Neben der allgemeinen technischen Weiterentwicklung müssen wir jedoch auch die spezifischen Entwicklungen in den Zukunftsfeldern des Rheinischen Reviers im Blick behalten.

Das Revier soll Innovationsmotor für Deutschland werden…

Richtig. Die Region wird also bei vielen Berufsbildern und Qualifikationen künftig einen Schritt vorausgehen. Erste Anhaltspunkte und einen Ausblick auf das Revier der Zukunft erhalten wir durch das Ende 2019 veröffentlichte „Wirtschafts- und Strukturprogramm für das Rheinische Zukunftsrevier 1.0“ sowie anhand der Projektvorhaben, die sich aktuell in der Bewertung durch die Zukunftsagentur Rheinisches Revier befinden.

Wo existiert aktuell der größte Handlungsdruck?

Um den tatsächlichen Bedarf besser abschätzen zu können, müssen die im Wirtschafts- und Strukturprogramm angedachten Zukunftsfelder weiter an Gestalt gewinnen. Für die Menschen sind greifbare Ergebnisse wichtig. Erst dann sehen sie, welche konkreten Qualifikationen und Kompetenzen ihnen eine Perspektive für ihre berufliche Zukunft bieten. Das wird passieren, sobald die ersten Projekte in die Umsetzung kommen, etwa in Form von Ausgründungen oder Unternehmensansiedlungen. Dann erkennen wir gewiss auch weitere Synergieeffekte und können den Bildungsbereich auf Erfolgskurs bringen. Auf diesen Moment bereiten wir uns derzeit unter anderem mit verstärkter Netzwerkarbeit und der Unterstützung einzelner Vorhaben vor.

Zu den besonderen Stärken des Rheinischen Reviers zählt eine hohe wissenschaftliche Kompetenz im Bereich der Bioökonomie. Wie kann die Forschung die Arbeit der Revieragentur unterstützen?

Die Bioökonomie wird neue Berufe in die Region bringen. Die Forschungsprojekte zu einer biobasierten Wirtschaftsweise stellen dabei auch aufgrund ihrer guten wirtschaftlichen Anschlussfähigkeit aus unserer Sicht ein großes Potenzial für die Region dar. Dabei wird die Entwicklung neuer teils auch zirkulärer Wertschöpfung eine besondere Rolle spielen. Wir beobachten dieses Thema mit großem Interesse und stehen in engem Austausch mit der Koordinierungsstelle BioökonomieREVIER sowie anderen Akteuren in diesem Bereich. Die Offenheit, die uns dabei entgegengebracht wird, wird uns helfen, die Entwicklung des Arbeitsmarktes und des Fachkräftebedarfs künftig besser zu fokussieren.

Wie kann die Revieragentur ihrerseits den Wandel hin zur Bioökonomie fördern?

Im Mittelpunkt unserer Aktivitäten steht unser gesetzlicher Auftrag: Wir verfolgen das Ziel, dass niemand unfreiwillig aus dem Erwerbsleben ausscheidet. Dabei setzen wir uns auch für Themen ein, die sich anfangs eher indirekt für die Themen Arbeitsplätze und Beschäftigung bezahlt machen. Die Bioökonomie bietet durch den nachhaltigen Einsatz von Ressourcen und Dienstleistungen besondere Chancen für die Region und die Menschen. Wenn sich hier neue Berufsfelder und Beschäftigungsmöglichkeiten ergeben, sorgen wir für einen Ausgleich zwischen dem Fachkräftebedarf, den Arbeitskräften sowie den vorhandenen oder benötigten Bildungsangeboten.

Wie gelingt das in der Praxis?

Einerseits schieben wir die Entwicklung neuer Qualifizierungsangebote an, andererseits qualifizieren wir Beschäftigte häufig auch direkt in Unternehmen, die sich auf den Weg der Transformation gemacht haben. Damit tragen wir zur Erfolgsfähigkeit neuer Geschäftsfelder bei und unterstützen die Unternehmen in ihrer Praxis, beispielsweise bei der Anwendung bioökonomischer Konzepte und Prozesse.

Wie wird sich die berufliche Bildung in der Region durch den Strukturwandel verändern?

Die berufliche Fort- und Weiterbildung hat sich in den letzten Jahren bereits sehr gewandelt. Nachgefragte Angebote werden heute deutlich individueller und spezialisierter durchgeführt. Der Anspruch an eine erhöhte Flexibilität wird bestehen bleiben und durch den Strukturwandel im Rheinischen Revier in besonderem Maße verstärkt. Die Digitalisierung bietet hier bereits neue Lösungsräume, da sich etwa bei Seminaren die Teilnehmerinnen und Teilnehmer deutschlandweit in Kursen zusammenfassen lassen.

Welche Institutionen oder Unternehmen sind bei diesem Wandel besonders gefragt?

Der Strukturwandel ist so tiefgreifend, dass wir es uns nicht leisten können, eine Gruppe oder Sichtweise außen vor zu lassen. Diesem Anspruch werden wir meiner Ansicht nach auch gerecht. Im Kontext der Zukunftsfelder des Reviers nehmen Forschung und Entwicklung sicherlich eine herausragende Stellung ein. Es geht dabei jedoch immer auch um diejenigen, die im zweiten Schritt die Anwendbarkeit realisieren können. Dabei handelt es sich nicht nur um Ausgründungen und Start-ups, sondern auch um kleine und mittlere Unternehmen mit besonderen Kompetenzen. In der Verzahnung von Wissenschaft und Mittelstand gibt es noch Luft nach oben. Wenn es uns dabei zudem gelingt, die Qualifizierungslandschaft in Form der unterschiedlichen Bildungsanbieter einzubinden, ergäbe sich ein sehr wirksamer Zusammenschluss.

Welche Funktion könnte BioökonomieREVIER bei der Weiterentwicklung der regionalen Kompetenz- und Qualifizierungslandschaft erfüllen?

BioökonomieREVIER hat seit Beginn umfangreiche Koordinierungsaufgaben in der Region wahrgenommen. Hier existiert also bereits eine gewinnbringende Vernetzungsarbeit, die die verschiedenen Akteure zusammenbringt und den gegenseitigen Austausch anregt. Anhand der gewonnenen Erkenntnisse kann BioökonomieREVIER beispielsweise Empfehlungen entwickeln, die die Berufsfelder der Zukunft und damit verbunden die Qualifizierungsbedarfe aus bioökonomischer Sicht konkretisieren.

Zum Schluss ein Blick in die Zukunft: Wie wird die Kompetenz- und Qualifizierungslandschaft im Rheinischen Revier in 20 Jahren aussehen?

Die Modularisierung der Bildungsangebote wird sicherlich noch stärker ausgeprägt sein als heute. Da die Angebote überwiegend digital durchgeführt werden, wird es dabei nicht länger relevant sein, wo der Bildungsträger verortet ist. Hochschulen, Unternehmen und regionale Bildungsanbieter werden deutlich besser vernetzt sein, um die Bedarfe beruflicher Weiterbildung eng abgestimmt decken zu können. Angebot und Nachfrage werden also stärker gemeinsam und parallel entwickelt. Die Grenze zwischen akademischer und nichtakademischer Qualifizierung wird an vielen Stellen durchlässiger sein. Außerdem werden der verlustfreie Wissenstransfer und damit auch mögliche Hindernisse beim Wissenstransfer eine immer bedeutsamere Rolle spielen.

Das Interview führte Anke Krüger

Mehr über die Revieragentur

Ansprechpartner

Dr. Christian Klar

Leitung

Koordinierungsstelle BioökonomieREVIER

02461 61-4230

Revieragentur für das Rheinische Revier

Vom Ende der Braunkohleverstromung im Rheinischen Revier sind rund 28.000 Arbeitsplätze bei RWE Power und Zulieferbetrieben betroffen. Die drei Agenturen für Arbeit im Rheinischen Revier (Aachen-Düren, Brühl und Mönchengladbach) begleiten den damit verbundenen Strukturwandel mit ihrer Erfahrung und Expertise im Arbeitsmarkt. Die Agentur für Arbeit Brühl übernimmt dabei die Rolle als federführende und koordinierende „Revieragentur“.

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