Strukturwandel als Chance für nachhaltige
Regionalentwicklung

© Forschungszentrum Jülich/Ralf-Uwe Limbach
Prof. Ulrich Schurr, Leiter des Instituts für Pflanzenwissenschaften IBG-2 am Forschungszentrum Jülich und Initiator der Strukturwandelinitiative BioökonomieREVIER
Interview mit Prof. Ulrich Schurr

„Von der Braunkohle zur Bioökonomie“

10.05.2019

Fossile Rohstoffe sind der Treibstoff gewesen, der den großen Industrienationen Fortschritt und Wohlstand gebracht hat. Die ökologischen Folgen ihrer Nutzung werden allerdings immer bedrohlicher. So bedrohlich, dass man sich hierzulande gegenwärtig auf den Ausstieg aus der Kohleförderung vorbereitet. Bereits 2022 sollen die ersten Kraftwerksblöcke im Rheinischen Revier vom Netz gehen. Was bedeutet das für eine Region, die sich bisher traditionell stark über den Energieträger "Braunkohle" definiert hat, gleichzeitig aber eine der Gunstregionen Europas für nachhaltige und produktive Landwirtschaft und die Heimat einer sehr starken Lebensmittelwirtschaft ist und die umgeben ist von Märkten, die Nahrung aber auch nachhaltige Rohstoffe für die chemische Industrie benötigen?

Im Interview spricht Schurr von den Chancen und Herausforderungen einer bioökonomischen Modellregion, das heißt der Wandel von einer bisher stark von der Nutzung fossiler Rohstoffe geprägten Region zu einer Modellregion für nachhaltiges Wirtschaften auf Basis einer modernen Bioökonomie. Das Forschungszentrum erweist sich für diese Vision dabei als ein besonders geeigneter Ausgangspunkt, denn seine Lage zwischen Rübenfeldern und Tagebau nimmt den Spannungsbogen vorweg, den ein Bioökonomie-Revier überbrücken müsste.

Was genau hat man sich unter einem Bioökonomie-Revier vorzustellen?

Das Bioökonomie-Thema ist zunächst einmal ein sehr breites. Es reicht von der Nahrungsmittelproduktion bis zur Herstellung von Chemikalien, Pharmazeutika oder diversen Materialien. In der Region spiegelt sich diese Breite gegenwärtig in vielen einzeln starken, aber oft isolierten Sektoren wieder. Von der wissenschaftlichen Seite aus interessiert uns nun vor allem die Frage, wie die Integration gelingen kann. Wie lassen sich all die verschiedenen Bereiche sinnvoll zusammenbringen? Erst wenn Rohstoff-Produktion, Umsetzung und Nutzung und der sozioökonomischen Rahmen zusammengedacht werden, kann es funktionieren. Wir haben dazu in den letzten Jahren im Bioeconomy Science Center (BioSC) viele Konzepte und Ideen entwickelt und damit die wissenschaftliche Basis gelegt. Ausprobiert in einer ganzen Region hat das aber bisher noch niemand. Hier gibt es große Potenziale. Aber dazu müssen wir irgendwann einmal in ein Reallabor reingehen und schauen: Wie sieht das jetzt eigentlich mit echten Akteuren aus, und wie binden wir die Gesellschaft ein? Darin sehe ich die große Aufgabe und Chance, die so ein Bioökonomie-Revier hätte.

Welchen konkreten Beitrag kann die Bioökonomie leisten, um die sozial- und energiepolitischen Herausforderungen des Strukturwandels zu meistern?

Der Strukturwandel wird derzeit sehr stark aus dem Energiebereich heraus diskutiert. Das ist meines Erachtens allerdings zu eng gedacht. Die Region hat die Chance, sich zu überlegen, was sie zukünftig sein will. Das muss ja nicht zwangsläufig auf den Energieaspekt beschränkt sein. Wir sehen vielfältige Möglichkeiten, die Region zu entwickeln, denn sie kann mit einer ganzen Reihe von Stärken aufwarten. Das umfasst den Energiebereich, aber auch den Bereich Digitalisierung und eben die Bioökonomie. Das passt natürlich hervorragend zum Portfolio des Forschungszentrums aber auch zu dem anderer Forschungs- und Ausbildungseinrichtungen in der Region, mit denen wir partnerschaftlich zusammenarbeiten. Denn eines muss allen klar sein, den Strukturwandel werden wir nur gemeinsam stemmen können. Wir wollen die Gelegenheit beim Schopf packen und die Bioökonomie zusammen mit den anderen Bereichen entwickeln, die für das Forschungszentrum wie die Region gleichermaßen relevant sind. Es gibt Schnittstellen sowohl zum Energiebereich, als auch zur Digitalisierung. So betreiben wir digitale Landwirtschaft und versuchen etwa, Ertragsdaten mit Satelliteninformationen zur Verfügbarkeit von Wasser und dem Stresszustand von Pflanzen zu koppeln. Dieser Bereich entwickelt sich derzeit sehr schnell, bietet aber ein großes Wachstumspotenzial. Hier gibt es auch die beiden Exzellenzcluster PhenoRob und CEPLAS2 an denen wir beteiligt sind. Bei der Energie versuchen wir zum Beispiel, Überschussstrom für biotechnologische Verfahren zu nutzen, oder auch Energiespeicher durch die Nutzung von Produkten aus Bioraffinerien nachhaltiger zu gestalten. Diese Kombination der unterschiedlichen Bereiche ist es auch, welche die ganze Region vorantreiben kann.

Wer sind Ihre wichtigsten regionalen Partner?

Auf der Forschungsseite kennen wir sie natürlich gut. Da haben wir etwa das BioSC, das auf eine Erfahrung von nunmehr zehn Jahren bauen kann und über das wir mit den Universitäten Bonn, Düsseldorf und der RWTH Aachen eng verbunden sind. In den Exzellenzclustern CEPLAS2 und PHENORob spielen darüber hinaus die Universität Köln, das Max-Planck-Institut für Züchtungsforschung und das Fraunhofer Institut IAIS wichtige Rollen. Wir arbeiten mit weiteren Fraunhofer-Instituten zusammen – hier insbesondere mit dem IME in Aachen und UMSICHT (Oberhausen). Auch mit den großen industriellen Partnern gibt es in den verschiedenen Sektoren gute und langjährige Kooperationen. Auf der Rheinschiene oder im nahen Belgien und den Niederlanden haben wir die chemische Industrie. Auch die regionale Landwirtschaft kennen wir mittlerweile ganz gut. Der rheinische Landwirtschaftsverband und die Landwirtschaftskammer sind Partner geworden, mit denen wir tagtäglich zu tun haben. In Sachen Strukturwandel sind wir quasi zusammen als Gruppe unterwegs.

Wo wir uns künftig noch mehr Vernetzung wünschen, sind die vielen kleinen und mittelständischen Unternehmen, die hier ansässig sind. Hier ist noch ein großer Schatz zu heben, wir entdecken jeden Tag Neues! Deshalb wollen wir innerhalb des vom Bundeswirtschaftsministerium geförderten Projekts „Bio-Revier“ gezielt auf die Unternehmen zugehen, die hier im Bereich der Bioökonomie unterwegs sind. Schön wäre es, eine Vernetzung der Akteure untereinander hinzubekommen. Die Idee ist, Wertschöpfung und damit auch Arbeitsplätze zu generieren. Es geht also um die komplette Kette von der Wissensgenerierung über den Transfer bis zur Umsetzung. Gerade bei dem mittleren Teil sind wir in Deutschland bekanntermaßen relativ schlecht aufgestellt. Wir sind in der Forschung und auch wirtschaftlich relativ stark, aber der Transfer von dem, was wir wissenschaftlich erfassen hin zur gewinnbringenden Nutzung dieser Erkenntnisse, gelingt uns in Deutschland nur bedingt. Gerade auf regionaler Ebene sehe ich aber große Chancen, dies zu ändern, denn so ein Transfer passiert vor allem über persönliche Kontakte, Vertrauen und unkomplizierte Treffen. Räumliche Nähe ist hier also ein entscheidender Vorteil.

Schon dem Namen nach ist Bioökonomie ja interdisziplinär angelegt. Was ist die größte Herausforderung, beim Zusammenspiel unterschiedlicher Fachbereiche?

Da ist das BioSC ist ein gutes Beispiel. Wir hatten dort vier verschiedene Standorte und ebenso viele Disziplinen. Am Anfang ging es daher vor allem darum, dass alle sich kennenlernen und sehen, dass sie ein gemeinsames Interesse haben. Der nächste Punkt war dann zu begreifen, dass man zusammen auch mehr erreichen kann. Diesen Weg auch in der Region hinzukriegen, ist natürlich noch einmal eine ganz andere Dimension.

Welche Rolle kommt dabei den Gesellschaftswissenschaften zu?

Es ist mit Sicherheit so, dass die Gesellschaftswissenschaften eine ganz wesentliche Rolle spielen, insbesondere in der Entwicklung in einer Region. Wir reden ja beim Strukturwandel auch über Identitäten. Was hat diese Region gegenwärtig eigentlich für eine Identität? Das zurzeit vorherrschende Verständnis ist sicher das vom Braunkohlerevier. Das ist insofern eigentlich verwunderlich, da tatsächlich nur eine kleine Anzahl von Menschen tagtäglich mit dem Thema Braunkohle in Berührung kommt. Trotzdem gibt die Braunkohle-Identität. Mit dem Strukturwandel wird dieses Selbstverständnis allerdings zusehends verschwinden und damit stellt sich die Frage, was soll an seine Stelle treten? Es gibt andere sinnstiftende Erzählungen, die gerade entstehen. Wenn zum Beispiel meine Tochter gefragt wird wo sie herkommt, dann sagt sie heute: Hambacher Forst. Wie stark so eine Erzählung werden kann, sehen wir an Wackersdorf. Der Ort wird immer noch mit Demonstrationen und Wiederaufbereitung in Verbindung gebracht, obwohl das Ganze schon sehr lange zurückliegt. Was ich damit sagen will ist, dass es sehr wichtig ist, darüber nachzudenken, wie sich solche Identitäten bilden oder bilden lassen. Ein Bioökonomie-Revier ist unter diesem Gesichtspunkt besonders interessant, weil wir mit dem, was wir da tun, in der Fläche präsent sind und positive, für die Bevölkerung erlebbare Impulse für die ganze Region schaffen können. Dadurch haben wir eine direkte Rückkopplung mit der Gesellschaft. Wenn hier beispielsweise statt Weizen und Zuckerrüben vermehrt andere Pflanzen auf den Feldern angebaut werden, dann merken das die Menschen direkt. Wenn sie demgegenüber in einer Fabrik eine Maschine austauschen oder an der einen oder anderen Stelle Industrie angesiedelt wird, dann wirkt das vor allem lokal. Die Bioökonomie bietet also die Chance einer sehr sichtbaren Umsetzung mitten in der Region.

Deshalb haben wir im BioSC begonnen die Kompetenzplattform für Sozioökonomie, die wir hier gerade aufbauen wollen, auch auf den Strukturwandel auszurichten. Wir wollen dort herausfinden, was genau abläuft, wenn eine ganze Region sich aufmacht und von fossilen Energieträgern zu einer nachhaltigen, biobasierten Wirtschaft wechselt. Viel hängt davon ab, von wo ich starte und welche konkreten Voraussetzungen gegeben sind. Das heißt, wir werden in Mecklenburg-Vorpommern eine andere Bioökonomie haben als hier. Diese Transformation wollen wir mit der Kompetenzplattform wissenschaftlich begleiten. Gleichzeitig wollen wir sie aber auch konkret mit einem Reallabor und Akteuren vor Ort ausprobieren.

Ist dieser Weg bis zur konkreten Anwendung und Wertschöpfung von wissenschaftlichen Erkenntnissen für das Forschungszentrum nicht Neuland?

Es wäre zu überlegen, ob man den Begriff Neuland nicht auch für den Strukturwandel nutzen sollte. Es gibt mindestens zwei Dimensionen, die für uns neu sind. Die eine ist, dass das Forschungszentrum die Anwendung bisher maximal bis zum Prototypen gedacht hat. Beim Bioökonomie-Revier verschiebt sich diese Perspektive nun ein wenig. Gleichzeitig hielte ich es aber auch für falsch, sich künftig statt auf die Wissensgenerierung nur noch auf Innovationen zu konzentrieren. Wir müssen vielmehr einen Weg finden, wie wir die Themen Innovation und Transfer als zusätzliche Komponenten installieren. Es sind ja auch nicht zwangsläufig die gleichen Menschen, die einerseits neues Wissen schaffen und andererseits den Transfer organisieren.

Ein weiteres Neuland ist die regionale Orientierung. Das bisherige Narrativ des Forschungszentrums blickte eher in die Ferne, verstand sich im europaweiten oder globalen Kontext. Der eigene Standort wird oft mehr als Handicap denn als eine Chance empfunden. Wir werden unsere wichtige Rolle im Strukturwandel aber nur hinkriegen, wenn wir erkennen, dass es ohne die Region nicht geht. Den regionalen Bezug als Stärke wahrzunehmen, ist auch eine neue Dimension. Das birgt viel Positives und neue Chancen – auch für die Grundlagenforschung im Forschungszentrum. Gleichzeitig kann das Forschungszentrum aber auch einen identitätsstiftenden Beitrag leisten. Die Öffentlichkeit nimmt die Region ja vor allem als Braunkohlerevier wahr. Wenn man aber die Zahl der Beschäftigten oder das Wertschöpfungspotenzial betrachtet, ist die Region tatsächlich heute schon sehr viel mehr ein Innovations- als ein Braunkohlerevier.

Ob eine Vision Realität wird, hängt auch von anschaulichen Beispielen ab, an denen Vorstellungen konkret werden können. Gibt es schon solche Bioökonomie-Projekte?

Wir haben verschiedene Projektideen, zu denen auch schon Projektanträge laufen - besonders an den Schnittstellen Energie und Digitalisierung, weil hier gerade sehr viel passiert. 5G-Testflächen für die Landwirtschaft sind ein Beispiel. 5G spielt eine Rolle im Kontext von Precision Agriculture zur Steigerung der Ressourcennutzungseffizienz oder ebenso für die Robotik. Wir werden künftig Roboter auf dem Feld haben oder auch Schwärme von miteinander kommunizierenden Drohnen. Hier wollen wir eng mit dem Brainergy Park in Jülich zusammenarbeiten.

Im Bereich Energie geht es um den Wechsel von einer zentralen zu einer dezentralen Energieversorgung. Hier kann man sich auch die Frage stellen: Wie kann beispielsweise eine Bioraffinerie aussehen, deren unterschiedliche Funktionalitäten sich in der Fläche verteilen? Statt einer zentralen Fabrik wäre hier eine ganze Region als Bioraffinerie zu begreifen.

Auch bezüglich der digitalen Elemente der Bioökonomie passiert tatsächlich schon mehr, als viele wahrnehmen. Die alten Jülicher kennen noch die langen Staus, die die Nutzfahrzeuge zur Zeit der Rübenernte verursachten. Heute sorgt eine ausgeklügelte Logistik dafür, dass sich keine langen Schlangen mehr bilden. Hier gibt es mit der Verbindung von landwirtschaftlicher Produktion, Anlieferung und Verwertung schon eine gelungene Kopplung unterschiedlicher Sektoren. Das haben findige Landwirte auf den Weg gebracht – ohne groß darüber zu reden oder auf Fördermittel zu schielen.

Außerdem produziert eine Zuckerfabrik heute nicht nur Zucker, sondern auch noch eine Reihe von anderen Stoffen. Das heißt, sie hat schon Elemente einer Bioraffinerie. Gleiches gilt für die Lebensmittelindustrie in der Region, die viel Biomasse verarbeitet. Das bedeutet wiederum, dass es Reststoffe gibt, die bioökonomisch betrachtet kein Abfall sind, sondern Ausgangsbasis für neue Produkte. Von der Umsetzungsseite hat die Region also alle Vorteile, die man sich vorstellen kann. Wir sind eine Vorzugsregion im Bereich der landwirtschaftlichen Produktion, wir haben die besten Böden Europas, wir haben die Möglichkeit, nachhaltig zu produzieren, wir haben die Möglichkeit, zu diversifizieren, wir haben Verarbeitungsmöglichkeiten vor Ort und wir haben auf der anderen Seite Märkte in der Nähe liegen, die auf solche Produkte angewiesen sind. Und das Ganze unterstützen wir von der wissenschaftlichen Seite. Es gibt also eine hervorragende Ausgangsposition.

Wie viel Zeit wird es brauchen, bis erste Ergebnisse in der Region zu sehen sein werden?

Es gibt nicht den einen Zeithorizont. Beim Strukturwandel reden wir mit Sicherheit mindestens von den nächsten 15 bis 20 Jahren. Wenn 2022 die ersten Kohlekraftwerke vom Netz gehen, stellt sich allerdings schon recht kurzfristig die Frage nach neuen Arbeitsplätzen. Wir haben also ein kurzfristiges Szenario im Hinblick auf neue Jobs, ein mittelfristiges bei der Frage, in welche Richtung sich diese Region insgesamt bewegt, und ein langfristiges Szenario von mehreren Jahrzehnten in Sachen Implementierung. Das sind unterschiedliche Zielzeiten, die Arbeit an allen drei Ebenen hat heute schon begonnen.

Was reizt sie persönlich an diesem Projekt?

Wenn ich auf meinen wissenschaftlichen Werdegang zurückschaue, dann habe ich tief in der Grundlagenforschung angefangen, bin dann hier am Forschungszentrum mit der strategischen Perspektive in Berührung gekommen und sehe nun die Erweiterung bis hin zur konkreten Anwendung ohne die Grundlagenforschung aufgeben zu müssen. Wir haben die Chance, wissenschaftliche Ideen und Konzepte, die wir hier entwickelt haben, auch in der Region zu testen und einzuführen. Am Schluss mal etwas zu sehen, was wichtig für diese Region werden könnte, das ist ein großer persönlicher Treiber.

 

Das Interview führte Philippe Patra

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