Netzwerken und Beraten

Dr. Jan-Hendrik Kamlage
22.06.2020
Beteiligungsexperte Jan-Hendrik Kamlage erklärt im Interview, wie die Menschen vor Ort im Rahmen des Strukturwandels für eine neue, nachhaltige Bioökonomie einbezogen werden.

Bürgerbeteiligung für die Bioökonomie: Die Weisheit der Vielen

Das Projekt BioökonomieREVIER will ein Leitbild im Bereich der nachhaltigen Bioökonomie und nachhaltiger Flächennutzung entwickeln. Daran sollen sich Bürgerinnen und Bürger wie auch Stakeholder beteiligen. Was verbirgt sich hinter dieser Beteiligung?

In diesem Jahr jähren sich die gewaltsamen Proteste um den Zukunftsbahnhof Stuttgart 21 zum zehnten Mal. Das politisch geplante Großvorhaben gilt als Symbol für schlechte Planungen, Kostenexplosion, unzureichende Kommunikation und vor allem Bürgerferne der damaligen Landespolitik. Die Folgen dieses Politikstils waren jahrelange Proteste, eine zerstrittene Gesellschaft und ein Regierungswechsel von Schwarz zu Grün. Heute, zehn Jahre danach, ist Bürgerbeteiligung in aller Munde und bedarf immer weniger der Fürsprache in Politik und Verwaltung. Bürgerbeteiligung hat dabei viele Facetten und Gesichter. Zum einen das individuelle Engagement in Parteien, Vereinen, Genossenschaften und Gruppen und zum anderen die Beteiligung an strukturierten Beteiligungsprozessen wie etwa in Planungszellen, Zukunftskonferenzen, Anhörungen und Dialogverfahren.

Im Projekt BioökonomieREVIER sind verschiedene Beteiligungsformate geplant. Welche sind das und warum diese unterschiedlichen Formate?

Von uns vorgesehen sind eine Bürgerversammlung, Bürgerräte und eine Onlineplattform. Die Bürgerversammlung – auch Citizens Assembly nach der Variante in Irland genannt – ist ein international etabliertes und vielfach erfolgreich angewendetes dialogorientiertes Beteiligungsverfahren. Hier versammeln sich Bürgerinnen und Bürger aus der gesamten Region des Rheinischen Reviers, um eine Leitidee zu entwickeln. Die Bürgerräte befassen sich lokal, in einem Dorf oder einer Gemeinde, mit Problemen, die eine faire Diskussion auf der regionalen Ebene verhindern könnten. Die Online-Plattform soll informieren über die Ergebnisse und den Verlauf des Dialogprozesses. Wichtig ist, dass die unterschiedlichen Formate ineinandergreifen und miteinander verknüpft sind. Das organisieren wir in unserem Forschungsschwerpunkt.

Werden da nicht die direkt vom Volke gewählten Parlamente – in dieser Region die Gemeinderäte und der Landtag – in Frage gestellt?

Die Antwort auf die Frage ist nein. Die Bürgerinnen und Bürger entscheiden ja am Ende nicht. Vielmehr entwickeln sie gut durchdachte Empfehlungen, die Verwaltungen, Parlamente und / oder Landesregierungen in ihrer Meinungs- und Willensbildung unterstützen. Klar sollte auch sein, dass die Menschen, die sich einbringen und engagieren, eine ordentliche Rückmeldung auf ihre Empfehlungen erhalten und von Anfang an wissen, was mit den Ergebnissen passiert. Der Anspruch ist, dass Empfehlungen, die nicht politisch aufgenommen werden, begründet abgelehnt werden. Sprich: Es sollte ein begründetes, öffentliches Feedback geben.

Warum sollen sich Bürgerinnen und Bürger überhaupt bei einem Expertenthema einbringen?

Bürgerinnen und Bürger sind Expertinnen ihrer Lebenswelt, ihres Umfeldes, ihrer Stadt oder auch ihrer Region. Und wenn eine Gruppe mit möglichst unterschiedlichen Hintergründen und Perspektiven unter guten Bedingungen zusammenkommt, entsteht so etwas wie die „Weisheit der Vielen“. Ein Beispiel für diese Weisheit ist ein Beteiligungsprozess, den wir im Rahmen des Stromtrassenausbaus der Energiewende in Bayern, zusammen mit dem Netzbetreiber TenneT umgesetzt haben. Bürgerinnen und Bürger entwickelten damals zusammen mit den Planern von TenneT einen Trassenverlauf, der so von den Experten nicht angedacht war. Am Ende wurde dieser Vorschlag auch umgesetzt, weil er besser war als die am Schreibtisch geplanten Varianten. Beispiele wie diese verdeutlichen, dass gut organisierte Gruppenprozesse Wissen bündeln und in gemeinnützigen Empfehlungen überführen können.

Gibt es weitere Vorteile?

Eine gut begleitete, vielfältige Gruppe aus Laienbürgerinnen und -bürgern verfügt über ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit und Gemeinwohlorientierung. Empfehlungen von Bürgerinnen und Bürgern wie Sie und ich erlangen oft eine hohe Zustimmung von den Menschen aus der Bevölkerung – selbst wenn die Ergebnisse nicht für ideal gehalten werden.

Die Mitglieder der Bürgerversammlung sollen per Zufallsauswahl ausgewählt werden. Ist es nicht viel zu riskant, die Auswahl dem Zufall zu überlassen?

Gegenfrage: Was soll daran gefährlich sein? Mit einer Zufallsauswahl kommen wir dem Ziel näher, einen breiten Querschnitt der Gesellschaft einzubinden. Die Gruppe ist idealerweise altersgemischt, Mann und Frau sind gleichwertig vertreten und auch die unterschiedlichen Orte der Region finden sich dort wieder. Ebenso diskutieren unterschiedliche Lebenslagen und Berufsgruppen mit. Je mehr unterschiedliche Sichtweisen und Argumente in die Beratungen einfließen, desto besser werden die Empfehlungen. So ist unsere Erkenntnis. Dieses Potenzial hängt davon ab, ob und inwieweit es gelingt, den Beratungsprozess gut zu organisieren. Dazu gehört eine unparteiliche Moderation – eine Gruppe muss gut zusammengebracht werden – gute Methoden der Gruppenberatung und beratendes Expertenwissen im Beteiligungsprozess.

Welche Vorteile haben diese Prozesse gegenüber der direkten Demokratie? Kann dies auch ein Ausweg aus verfahrenen Situationen und in Konflikten sein?

Die direkte Demokratie sollte aus meiner Sicht die letzte demokratische Option sein. Ganz einfach, weil hier zwei Alternativen zur Abstimmung gestellt werden. Viele Fragen lassen sich aber nicht in zwei Alternativen abbilden. Aus meiner Sicht braucht es ergänzend dazu Demokratieformen, die auch Einigung, Konsens, Kompromiss und akzeptierten Dissens stärken.

Zudem sorgen direktdemokratische Prozesse für stark polarisierte Debatten und trennen die Menschen stärker, als dass diese das Gemeinsame suchen. Dialogverfahren hingegen stärken das Gemeinsame und erlauben tragfähige Lösungen und Kompromisse. Ein hohes Gut in Zeiten zunehmender gesellschaftlicher Polarisierung und zunehmend verrohender Kommunikation im Netz, die z. B. Bernhard Pörksen (Medienwissenschaftler aus Tübingen) als „große Gereiztheit“ beschreibt. Klar ist dabei auch, dass unsere Demokratie wirkliche Alternativen, die zur Abwägung stehen, benötigt und da haben Abstimmungen eine wichtige Rolle, um am Ende zu entscheiden.

Die von Ihnen geplante Bürgerbeteiligung soll im Feld der nachhaltigen Bioökonomie und der Flächennutzung geführt werden. Warum gerade dieses Themenfeld und was ist das Besondere daran?

Die Region wird einen umfassenden Strukturwandel erleben – weg von dem Braunkohletagebau hin zu anderen Wirtschaftsweisen. Es gibt Bestrebungen, das Rheinische Revier zu einer Modellregion für bioökonomische Dienstleistungen und Produkte zu entwickeln. Vor dem Hintergrund des Klimawandels und der Begrenztheit der Natur ist eine zukunftsfähige und nachhaltige Wirtschaft gefragt. Wichtig ist uns, die Bevölkerung vor Ort einzubinden und zu beteiligen. Unsere Beteiligungsprozesse zeichnen sich dadurch aus, dass wir sehr stark die Bürgerinnen und Bürger ins Zentrum der Beratungen rücken, weil wir sie als idealen Resonanzboden für die Diskussionen in der Gesellschaft betrachten

Die Diskussion um die Flächennutzung zeigt deutlich, das verschiedene Nutzungsformen um die gleichen Flächen zukünftig konkurrieren werden. Daher wurden wir eingeladen, diese Entwicklungen partizipatorisch zu begleiten und zu evaluieren.

 

Dr. Jan-Hendrik Kamlage ist Politikwissenschaftler und arbeitet seit 2012 als am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen (KWI). Seit 2016 leitet und koordiniert er den Forschungsschwerpunkt Partizipationskultur. Er verfügt über langjährige Expertise im Bereich der Demokratie-, Bürgerbeteiligungs- und Partizipationsforschung in Theorie und Praxis sowie weitreichende Kenntnisse der Nachhaltigkeitsforschung. Seine Forschungsschwerpunkte liegen u. a. in der Konzeption und Evaluation dialogorientierter Beteiligungsprozesse, Demokratietheorie sowie Bürgerbeteiligung und freiwilliges Engagement.

Das Interview führte Ute Goerke, KWI Essen.

https://kulturwissenschaften.de/partizipationskultur/

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